Zum Thema „Der Offenbarungseid als Chance“
Experten raten überschuldeten Menschen, einen Antrag auf Insolvenz zu stellen – das ermöglicht einen Neuanfang
(Zeitungsartikel von Frau Barbara Schäder, Wirtschaftsredakteurin, Frankfurt/Main)
(vollständig erschienen am 25. März 2019 in Stuttgarter Nachrichten, Stuttgarter Zeitung, Waiblinger Kreiszeitung)
ein Beratungsfall aus der Anwaltspraxis von Rechtsanwalt Gerhard Seil
Hier zum Nachlesen:
„Die Bankrotterklärung als Chance“
Vor 20 Jahren wurde in Deutschland die Privatinsolvenz eingeführt. Doch nur wenige Schuldner machen davon Gebrauch.
„Es war, als wäre ein Knoten geplatzt.“ Christine Schlüter (Name geändert) hat es getan: Sie hat Privatinsolvenz angemeldet. Jetzt sitzt die 43-Jährige in der Kanzlei ihres Anwalts Gerhard Seil und ist vor allem eines: erleichtert.
Das klingt erst einmal seltsam, denn natürlich sind Schlüters Schulden noch da. Rund 20000 Euro haben sich über die Jahre aufgetürmt, in denen sie mit ihrem kranken Sohn allein in Hamburg lebte. Als Schlüter die Mahnschreiben irgendwann gar nicht mehr öffnete und ihr immer mal wieder der Strom abgestellt wurde. Besser wurde es erst, als sie zu ihrem heutigen Partner nach Esslingen zog: „In den letzten Jahren habe ich nicht einen Euro Schulden gemacht“, sagt Schlüter. Aber von den Altlasten kam die Einzelhandels-Kauffrau, die als Kassiererin in einem Supermarkt arbeitet, einfach nicht herunter.
Mit der Privatinsolvenz will sie endlich einen Schlussstrich ziehen. Das 1999 eingeführte Verfahren eröffnet Verbrauchern in finanziellen Nöten die Möglichkeit auf eine sogenannte Restschuldbefreiung: Wenn sie ihr Vermögen offenlegen, sich zur Abtretung von Teilen ihres Lohns bereit erklären und gewisse Meldepflichten einhalten, wird ihnen nach spätestens sechs Jahren die verbleibende Schuld erlassen.
Doch nur eine Minderheit der Überschuldeten stellt einen Insolvenzantrag. Von 1999 bis Ende 2017 wurden laut Zahlen des Statistischen Bundesamts rund 1,3 Millionen Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet. Zum Vergleich: 6,9 Millionen Bürger sind laut der Wirtschaftsauskunftei Creditreform als überschuldet einzustufen. Jahr für Jahr werden es mehr – die Zahl der Verbraucherinsolvenzen dagegen sinkt.
Für Rechtsanwalt Seil ist das ein Unding. „Die Insolvenz ermöglicht den Leuten einen Neustart“, sagt er. Denn wenn das Verfahren einmal eröffnet ist, können die Gläubiger keinen Gerichtsvollzieher mehr schicken, nicht einmal mehr Mahnbriefe. Sie müssen sich an den Insolvenzverwalter halten, der das bisschen, was beim Schuldner zu holen ist, unter allen aufteilt.
Manchmal ist auch gar nichts zu holen. Zwar muss der Schuldner ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Teil seines Lohns abtreten – allerdings nur oberhalb eines Freibetrags, der für Alleinstehende bei 1139,99 Euro netto im Monat liegt. Nach Seils Erfahrung stehen sich Geringverdiener oder auch überschuldete Rentner damit oft besser als vor dem Verfahren: „Wenn ein Arbeitnehmer dem Staat Geld schuldet, kann ihm auch das Kindergeld gekürzt werden.“ Damit sei es in der Insolvenz vorbei.
Es gibt natürlich auch Schuldner, die sich ohne Insolvenzverfahren außergerichtlich mit ihren Gläubigern einigen. Rund ein Fünftel der von Schuldnerberatungsstellen behandelten Fällen wird auf diese Weise gelöst, wie aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamts von 2017 hervorgeht. 23
Prozent der Beratungen wurden ohne Ergebnis abgebrochen, 44 Prozent endeten in einer Verbraucherinsolvenz.
Die Mehrheit der Überschuldeten allerdings findet gar nicht erst den Weg in eine Beratungsstelle, und unter den Ratsuchenden verzweifeln einige an den langen Wartezeiten. Bei der Zentralen Schuldnerberatung Stuttgart (ZSB) mussten sie in der Vergangenheit oft ein Jahr warten, inzwischen hat sich die Lage nach Auskunft von ZSB-Leiter Rainer Saleth etwas gebessert. In Notfällen, betont Saleth außerdem, finde sein Haus immer eine schnelle Lösung: „Wenn jemandem der Strom abgestellt werden soll oder gar ein Haftbefehl droht, bekommt er innerhalb von ein bis zwei Wochen eine Existenzsicherungsberatung.“
Im bundesweiten Durchschnitt beträgt die Wartezeit für einen Termin bei der Schuldnerberatungsstelle lediglich zehn Wochen. Das liegt allerdings auch daran, dass viele Beratungsstellen – anders als in Stuttgart – nur noch bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Arbeitslose aufnehmen dürfen. „Das verkürzt die Wartezeiten, dafür haben viele Überschuldete aber gar keinen Zugang mehr zu einer kostenlosen Beratung“, kritisiert Roman Schlag von der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände.
Bei auf Insolvenzfälle spezialisierten Anwälten ist der Zugang unkompliziert, dafür kostet die Beratung Geld. Der Esslinger Rechtsanwalt Seil berechnet für die Verhandlungen mit den Gläubigern bis zur Zusammenstellung des Insolvenzantrags 600 bis 800 Euro, zahlbar in Raten von 200 Euro. „Dafür bleiben meinen Klienten nicht nur Wartezeiten erspart, sondern auch zusätzliche Mahngebühren und Zinsen, die sich währenddessen anhäufen“, sagt er. Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, für den Termin beim Anwalt Beratungshilfe beim Amtsgericht zu beantragen. Ob diese gewährt wird, hängt von den finanziellen Verhältnissen ab.
Das eigentliche Insolvenzverfahren übernimmt dann ein vom Amtsgericht ausgewählter Insolvenzverwalter. Die Kosten für eine Verbraucherinsolvenz betragen 2000 Euro und können auf Antrag gestundet werden, das heißt: Der Schuldner muss sie erst nach sechs Jahren begleichen. Sofern er genug verdient, werden die Verfahrenskosten ohnehin aus dem gepfändeten Lohn abgestottert. Sind sie nach fünf Jahren beglichen, so können auch schon zu diesem Zeitpunkt die restlichen Schulden erlassen werden. Ausgenommen von dieser Regel sind Schulden aus Geldstrafen oder Geldbußen sowie vorsätzlich unterlassene Unterhaltszahlungen.
Theoretisch ist eine Restschuldbefreiung auch schon nach drei Jahren möglich. Das geht allerdings nur, wenn der Schuldner zu diesem Zeitpunkt bereits sämtliche Verfahrenskosten sowie 35 Prozent der Gläubiger-Forderungen bezahlt hat. Diese Hürde ist für die meisten zu hoch, laut einer Untersuchung des Bundesjustizministeriums gelang bei weniger als zwei Prozent der Verbraucherinsolvenzen eine vorzeitige Restschuldbefreiung nach drei Jahren.
Auch Christine Schlüter wird das mit ihrem derzeitigen Einkommen als Supermarktkassiererin nicht schaffen. Trotzdem ist sie heilfroh, dass sie endlich wieder sorgenfrei ihren Briefkasten öffnen kann – ohne Angst vor neuen Mahnschreiben.
Infobox: Pfändungsschutzkonto
Auf dem Pfändungsschutzkonto sind Guthaben überschuldeter Menschen bis zu einer gewissen Höhe vor dem Zugriff von Gläubigern geschützt. Der Grundfreibetrag liegt bei 1.133,80 Euro
und kann erhöht werden, wenn der Schuldner beispielsweise Kinder zu versorgen hat. Einen Ersatz für eine Schuldenbereinigung bietet das Pfändungsschutzkonto aber nicht. Es ändert zum Beispiel nichts daran, dass durch Mahnbescheide und Zinsen die Forderungen an den Schuldner immer weiter steigen. Zudem kann ein Schuldner, dessen Monatsausgaben unter seinem Freibetrag bleiben, das Ersparte höchstens einen weiteren Monat auf dem Konto behalten.